Religiöse Traditionen, welchen Wert haben sie?
Religiöse Traditionen, welchen Wert haben sie?
Navid Kermani gibt eine Antwort:
Bevor ich ein Jahr in Rom lebte, nahm ich das Christentum als etwas Gutes und ethisch Wertvolles wahr, aber nicht als etwas Schönes. Als Jugendlicher in einer sehr protestantischen Stadt aufgewachsen, dachte ich oft: Die Christen sind ja nett, aber warum sind ihre Gottesdienste so langweilig? In Rom habe ich gespürt, wie alt die katholische Tradition ist; dass göttlich nicht heißt, dass etwas vom Himmel fällt, sondern über die eigene Erinnerung hinausgeht, dass Rituale, Formen, Gebete einen Ursprung haben, den wir allenfalls noch erforschen können, und den dennoch keine Forschung aufschlüsselt. Leider leben wir in einer Zeit, in der sowohl katholische als auch islamische Traditionen wegbrechen; das ist nicht nur traurig, sondern auch gefährlich, weil Traditionen, die abgebrochen sind, meistens als Fundamentalismus, als etwas Reaktionäres zurückkehren, und dann entsteht Gewalt.
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Man kann keine Tradition künstlich am Leben erhalten. Aber man kann sie dort, wo sie noch existiert, achten und auch schützen und erneuern. Tradition ist die Vermittlung der göttlichen Offenbarung durch Generationen von Menschen hinweg; sie ist mehr als ein Einzelner wissen oder sich ausdenken kann.
(zitiert aus Interview im Süddeutsche Zeit Magazin Nr 35/28.8.2015, S. 10)