Gesehen werden – oder doch lieber nicht?
Gesehen werden – oder doch lieber nicht?
Gesehen werden, anerkannt werden, das ist ein menschliches Grundbedürfnis. Gewürdigt werden, bestärkt werden, ja!
Da ist die Geschichte von Zachäus. Er will zunächst einmal sehen: Jesus, von dem er ungeheure Dinge gehört hat.
Zachäus wird von seinen Mitmenschen nicht geschätzt. Er gerät aufgrund seiner Arbeit für die Besatzer, die Römer, und dem Gewinn, den er daraus zieht, ins Abseits. Er ist isoliert. Zachäus gehört nicht mehr zur Gemeinschaft. Er wird übersehen.
Zachäus wagt sich nach draußen, in die Menge. Alle wollen Jesus sehen. Da sie ihn nicht in die erste Reihe lassen und er vielleicht auch gar nicht gesehen werden will von denen, die er schon ausgenommen hat, steigt Zachäus auf einen Baum. Der verbirgt ihn und gleichzeitig kann er sehen.
Und dann wird er gesehen! Jesus spricht ihn an, wie er da so auf seinem Ast sitzt und lädt sich zu ihm ein. Dieses Gesehen werden verändert Zachäus!
„Du bist ein Gott, der mich sieht“. Dieser Satz wird Hagar zugeschrieben. Hagar ist die ägyptische Magd von Sara und Abraham. Sie hat für Sara ein Kind bekommen. Doch das Familienglück währt nicht lange. Hagar wird in die Wüste geschickt, im wahrsten Sinne des Wortes. Dort in der Wüste, dem Verdursten nahe, hat sie eine Begegnung. Sie wird gefragt: Hagar, woher kommst du? Und wohin gehst du? – Woher kommst Du, Hagar? Was hat dich zu der gemacht, die du heute bist? Was schleppst du mit dir an Lasten, was bringst du mit an guten und schlechten Erfahrungen. Hagar, wo kommst Du her? Und Hagar, wo willst du hin? Was ist Deine Sehnsucht. Was wünschst du dir noch? Wie soll es mit deinem Leben weitergehen. „Ein Engel kam zu mir“, so deutet sie diese Begegnung, die ihr zur Gottesbegegnung wird. „Wo kommst du her und wo willst du hin?“, diese Fragen zeigen ihr, hier wird sie mit einem liebenden Blick gesehen. So kann Hagar sagen und bekennen: Du bist ein Gott, der mich sieht.
Von Jesus wird erzählt, dass er die Kinder sieht. Die Erwachsenen schicken sie weg. Das lässt Jesus nicht zu. Er nimmt sie in den Blick. Sieht sie an. Nimmt sie wahr in ihren Bedürfnissen. Er herzt sie und segnet sie.
So gesehen zu werden, bestärkt, ermutigt, heilt. Etwas anderes ist, immer im Blick und unter Kontrolle zu sein.
Kinder wollen auch mal nicht gesehen werden, etwas im Geheimen tun, ausprobieren, testen, Verbotenes tun. Erwachsene wissen das. Sie waren ja selber mal Kinder. So haben sich die Großen auch immer viel einfallen lassen, um die Kinder möglichst vom geheimen Tun abzuhalten. „Der liebe Gott sieht alles“, ist einer der Tricks. Gott als Erziehungspartner der Eltern und anderer Autoritäten.
Kinder von heute erleben kaum noch unbeaufsichtigte Räume. Die Welt, in der Kinder leben, ist gefährlich, nicht kindgerecht gestaltet. Es kann viel passieren. Damit Kinder sicher sind, müssen sie im Blick sein, gesehen werden. Das schränkt Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit, letztlich auch in ihrer Entwicklung ein. Ihr Tun und Lassen wird gesehen und kommentiert.
Kinder brauchen Räume, um sich auszuprobieren. Fähigkeiten und Grenzen müssen ausgelotet, getestet werden ohne Anleitung. Das geht ohne gesehen werden oft besser. Und natürlich muss auch mal was Verbotenes gewagt werden.
In den Märchen gibt es oft das Motiv des Verbotenen, Räume etwa, die nicht betreten werden dürfen. Nur indem das Verbot gebrochen wird und der Raum dann doch betreten wird, führt zum guten Ende.
Wenn es in der Bibel darum geht, dass ein Mensch wahrgenommen, gewürdigt, gesehen wird, dann ist das häufig mit einer Frage verbunden. Hagar wird vom Engel gefragt: „Wo kommst Du her, und wo willst du hin?“ Maria von Magdala, als sie voll Trauer am Grab Jesus angekommen ist, wird gleich zweimal gefragt: „Warum weinst Du?“, einmal von den Engeln im Grab und einmal vom Auferstandenen selbst (Johannes 20). Da will einer sehen, was los ist. Will wissen, wie es dem Gegenüber geht. Da findet Begegnung statt. Es geht nicht um Kontrolle, nicht um Bewertung, nicht um Deutung, nicht um besser wissen, was mit der Anderen los ist.
Um es mit dem „Kleinen Prinzen“ zu sagen: „ Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Es geht um Gesehen werden mit dem Herzen, das uns heilt. Und es gibt auch ein Wegsehen und Nicht-Hinschauen mit dem Herzen, das guttut und hilfreich ist.
Und wie ist das mit dem lieben Gott? Der liebe Gott sieht alles, aber sagt es nicht weiter!
Johanna Wittmann