Was ist deutsch?
Was ist deutsch?
Zitiert aus einem Artikel aus der SZ Digital-App der Süddeutschen Zeitung:
Identität, 29.03.2016
Wir müssen reden
von Armin Nassehi
Einer der bekanntesten Aphorismen Friedrich Nietzsches lautet: „Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ‚was ist deutsch‘ niemals ausstirbt.“ Was das Deutsche ausmache, wie man sich „hier“ angemessen zu verhalten hat, welche zivilisatorischen Standards unsere Lebensform ausmachen, was denn „unsere“ Kultur sei – all diese Fragen haben wir derzeit den Flüchtlingen zu verdanken, die nach Deutschland und Europa kommen. Ängste und Sorgen, Mahnungen und Warnungen beziehen sich auf diesen Kern des Eigenen, das es zu verteidigen gelte. Verschärft wird diese Frage noch durch die Terroranschläge in Paris, die flächendeckend als Angriff auf „unsere“ Lebensform erlebt worden sind.
Allein – es fällt schwer, es tatsächlich zu qualifizieren, was es denn sei, das Eigene. Wenn es Leute gibt, die uns Auskunft über das Eigene geben können, müssten es die sein, die das Eigene zum alleinigen Programm ihrer Kritik machen. Von rechtskonservativen Beobachtern müsste man also, wenn man sie ernst nimmt, erfahren können, was es denn nun sei, das Eigene. Merkwürdigerweise kommt dabei aber nicht viel mehr heraus als dies: Es ist das Eigene.
(…)
Dieser Befund weist darauf hin, dass dieses Eigene als begehbare Identität verschwindet, sobald man es benennen muss. Denn wenn man es benennt, hat man sich bereits auf Vergleiche eingelassen und stellt fest, dass man nur die andere Version einer auch anders möglichen Version ist. Sobald man es sagt, ist sie weg, die Erhabenheit des Eigenen, weil man dann auch auf Anderes stößt, das auch ein Eigenes hat.
Und dann kommt man natürlich auf Unterschiedliches, auf unterschiedliche Traditionen, auf unterschiedliche Gewohnheiten, Offenheiten. Aber man kommt eben auf Unterschiedliches, nicht auf etwas, das so explizit ist, dass es das ganz Andere des Anderen ist. Das Einzige, was bleibt, ist, dass es das Eigene ist. Dann wird es tautologisch – und man muss verstummen.
O-Töne auf Pegida-Demonstrationen, aber auch von jenen, die das Eigene dann benennen sollen, wirken eher peinlich. Und vielmehr als der Hinweis auf unsere „Kultur“ kommt nicht dabei heraus. Nur: Mit dem Hinweis auf Kultur fängt die ganze Misere wieder an, weil man vergleichen muss und dann auf Kultur auch bei den anderen stößt. Das ist so ausweglos, dass die Gebildeten unter solchen Diagnostikern des Eigenen dann nur noch behaupten können, ein böser allgemeiner Diskurs hindere sie daran, jene Wahrheit zu sagen, die offensichtlich nicht sagbar ist. Den weniger Gebildeten unter diesen Ausweglosen erstickt die Sprache auch, was dann Gewalt wahrscheinlicher macht.
(…)
Es ist leicht, eine Geschichte über den Muslim zu erzählen, über den dunklen Menschen, über sein Leid, seine romantische Verfasstheit und seine orientalische Anziehungskraft, ebenso wie über seine orientalische Minderwertigkeit. Es ist aber fast unmöglich, dasselbe über das Eigene zu tun – übers Deutsche oder Europäische, über das Abendland oder den zivilisierten Westen.
Der Hinweis auf das Grundgesetz Das liegt daran, dass sich das Andere und Fremde schon durch seine Differenz als Information lesen lässt, während man beim Eigenen auf so viel Differenzen stößt, dass es nicht mehr als Identität sagbar ist. Da das nicht gelingt, wird oftmals versucht, das Eigene nicht mehr kulturell zu definieren, sondern mit einem Hinweis auf das Grundgesetz, in dem die Fremden angeblich lesen können, wie man sich hier in Deutschland angemessen zu verhalten habe.
Genauer besehen, müsste das die Kränkung aber noch erhöhen. Denn neben der Staatsorganisation formuliert das Grundgesetz vor allem Grundrechte, die den Bürger gegen die Willkür von Hoheitsträgern schützen – und übrigens auch abweichende Lebensformen, das Fremde, auch das, was nicht gefällt, unter Schutz stellen. Dass Bürgerinnen und Bürger die Gesetze einhalten müssen, ist daneben nur ein schwacher Hinweis auf das Eigene – denn das ist selbstverständlich, sonst wären die Gesetze keine Gesetze. Das Besondere an Rechtsnormen ist, dass sie auch dann gelten, wenn sie übertreten werden. Sonst bräuchte man sie nicht.
Was also ist das Deutsche? Hier zu leben. Mehr sollte man darüber nicht sagen müssen. Es kann heute, in einer pluralistischen, globalisierten Gesellschaft keine starke und exklusive Selbstverortung mehr sein. Das „Hier“ wird zu einem „Wir“ nicht durch kulturelle Oktroys, sondern durch gesellschaftliche Selbsterfahrung, durch eine alltägliche Praxis, die man durch geeignete Maßnahmen auch Einwanderern ermöglichen muss – durch Teilhabe an Bildung, am Arbeitsmarkt, am konkreten Leben.
Das Attraktive an modernen Lebensformen ist, dass sie mit möglichst wenig Bekenntnissen auskommen können.
(…)
Es ist eine Lebensform, die es nicht nur aushält, dass es in ihr eine gewisse Indifferenz und Interesselosigkeit darüber gibt, wie die unterschiedlichen Gruppen und Milieus leben.
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Es ist eine Gesellschaft, die sogar Leute aushält, die am Ende zu Mördern werden. Das ist die unglaubliche Paradoxie, die sich gerade abspielt.
Dass dieses Eigene in unserem Fall dann ein deutscher und ein europäischer Kontext ist, der die gesellschaftlichen Selbsterfahrungen Deutschlands gar nicht loswird und -werden will, ist selbstverständlich. Seien wir etwas selbstbewusster, wir Deutsche: als ein Einwanderungsland, das in den letzten Jahrzehnten auch ohne explizite Einwanderungspolitik einen erstaunlich inklusiven Charakter gezeigt hat; als ein Land, dessen kulturelle Potenz offensichtlich ausreicht, mit mehr kultureller Differenz zu leben, als es in Generationen vor uns der Fall war; auch als ein Land, das von außen offensichtlich für attraktiver gehalten wird, als es von innen erscheint. Wer da nur an materielle Versorgung denkt, hat nicht verstanden, was an Deutschland derzeit attraktiv ist.
Was sagen wir Deutsche?
Machen wir uns nichts vor: Diese Fragen sind nicht akademisch. Die derzeitige Flüchtlingssituation ist nur der Vorbote einer Welt, in der die globalen Verwerfungen, aber auch Vernetzungen und Möglichkeiten überall sichtbar werden. Wir, wir Deutsche, müssen uns darauf einstellen und weniger fragen, wer wir sind, sondern wie wir als eine zukünftige Einwanderungsgesellschaft operieren wollen. Je selbstbewusster wir damit umgehen, desto weniger werden wir jene „Identität“ verlieren, die uns die Vorkämpfer des Identitären nicht einmal erklären können.
Armin Mohler, der rechte Vordenker des Antiliberalismus, hat einmal geschrieben: „Was ich den Liberalen nicht verzeihe, ist, dass sie eine Gesellschaft geschaffen haben, in der ein Mensch danach beurteilt wird, was er sagt – nicht nach dem, was er ist.“ Das ist es, was in den Köpfen der Menschen fester verankert ist, als es verträglich ist. Lassen wir also die Nietzsche-Frage hinter uns und fragen uns nicht, was deutsch ist, sondern was wir Deutschen sagen – und beurteilen wir uns danach. Das wäre ein Anfang. Vielleicht fallen uns dann ganz andere Geschichten über uns ein. Und vielleicht überwinden wir dann auch die Kränkung, dass es viel leichter ist, über die Anderen, über die Fremden, über die Dunklen und die Bedrohlichen Geschichten zu erzählen als über uns selbst.
Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Briefwechsel ist nachzulesen in seinem Buch „Die letzte Stunde der Wahrheit“.