Benjaminus und seine Notenblätter
Benjaminus und seine NotenblätterDer junge Engel Benjaminus war selig. Endlich, endlich war er groß genug, um in den Weihnachtshymnus des 1.Engelschores der himmlischen Heerscharen mit einzustimmen. So lange hatte er darauf schon gewartet! Seit Tagen trug er, wie alle anderen Engel, die Hymnuschormappe mit sich herum und versuchte vergebens, die einzelnen Texte zu behalten. Denn keinem Engel war es gestattet, eine Mappe in der Hand zu halten, wenn zur heiligen Nacht der Himmelschor erschallte – Engeln und Menschen zur Freude, dem großen, heiligen Gott und seinem Sohn Jesus zu Ehren. Seine Töne hatte er alle im Kopf, neue Mitglieder durften in den ersten Jahren nur die Melodiestimme singen. Erst wenn Gloriosus, ihr Dirigent und Stimmübungsengel, die Stimme gut genug kannte, wies er jedem Engel seine Tonlage zu. Manchmal wurde ein Engel auch wieder weggeschickt. Dann herrschten große Trauer und Mitleid mit dem Abgewiesenen, wusste doch jeder Engel um die große Freude des Singens in der heiligen Nacht. Und er, Benjaminus, war dabei, wie stolz und glücklich hätte er sein können. Doch er hatte ein großes Problem. Er konnte und konnte sich den Text des Hymnus nicht merken. Er übte und übte, aber sobald er die ersten Takte gesungen hatte, war sein Kopf leer. Nur Töne und nicht ein Wort kamen über seine Lippen. Und immer wieder der bohrende Blick von Gloriosus und die Frage: „Benjaminus, warum singst du nicht? Hast du schon wieder den Text vergessen? Bis zum nächsten Mal kannst du ihn, versprochen?!“ Benjaminus nickte – aber ohne Hoffnung. Gloriosus sah, wie Benjaminus sich mühte und mühte. Und da der junge Engel eine begnadete Sopranstimme hatte, musste er ihm unbedingt helfen. „Benjaminus, ich werde eine Ausnahme bei dir machen – und nur bei dir, dass euch anderen das klar ist! Du darfst deine Hymnusblätter mitbringen und zwischendurch mal reinschauen – bis du den Text kannst. Vielleicht hilft dir das. Üb aber trotzdem weiter und schludre jetzt nicht!“ Oh, wie war Benjaminus glücklich! Jetzt sang er noch schöner, noch kräftiger und Töne und Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Die anderen Engel nickten ihm immer wieder aufmunternd zu, Gloriosus konnte nur lächeln, wenn er zu Benjaminus herüberschaute. So inbrünstig hatte noch kein junger Engel gesungen! Und dann war er da, der Tag der Tage, der Abend der Abende, die Nacht der Nächte. Die Engel versammelten sich, hörten die wunderbare Geschichte und die Botschaft der heiligen Nacht, der Himmel öffnete sich und dann stimmte der 1. Engelschor der himmlischen Heerscharen seinen Hymnus an. Er füllte den ganzen Himmel und schallte hinunter auf die Erde. Gewaltig, erhebend, berührend klang das Gloria – und über allen Engelstimmen schwebte Benjaminus’s klarer, jubelnder Sopran – Gloriosus hatte extra für ihn eine Oberstimme komponiert. Kaum war der letzte Ton verklungen – ergriffene Stille herrschte im ganzen Himmel – da erklang einlautes, jubelndes „Juchhuuuuuuuu, ich hab’s geschafft!!!!! Ich hab’s geschafft, ich brauche keine Hymnusblätter mehr, kein – einziges – Blatt!“ Und bei jedem Ausruf warf er ein Liederblatt nach dem anderen durch die Himmelsöffnung zur Erde hinunter. Sie flatterten in alle Himmelsrichtungen, nach Norden, nach Osten, nach Süden und Westen. Ihr werdet es nicht glauben – einige davon sind bis in unseren Garten geflattert. Es haftet noch immer etwas Himmlisches an ihnen, und deshalb entstanden fast wie von selbst kleine Notenblattengel. Wenn ihr einen von ihnen in einer stillen Minute am heiligen Abend nah an euer Ohr – oder an euer Herz haltet, dann hört ihr ganz von Ferne die himmlischen Heerscharen singen. Gloria in excelsis Deo – und ganz hell und zart schwebt über allem Benjaminus’s Jubelgesang Beate Schaller, Weihnachten 2011 |