Leben leben
Leben leben
Mückenzeit
„Und wann beginnt für Sie das Leben, wenn ich fragen darf?“
Der Brenner wollte das Gespräch langsam in eine andere Richtung bringen, aber er hat dem Knoll doch noch schnell eine Antwort gegeben. „Wo ich herkomme, in Puntigam – “
„Aus Puntigam sind Sie? Wo das Bier herkommt?“
Siehst du, da hat der Knoll jetzt wirklich gelächelt, so hat er sich gefreut, dass er einmal wen aus Puntigam kennengelernt.
„Genau. Da hat man einem Kind gesagt, wenn von früheren Zeiten die Rede war, wo es noch nicht gelebt hat: Damals bist du noch mit den Mücken geflogen.“
„Das kenne ich auch. Da bist du noch mit den Mücken geflogen. Das haben wir als Kinder auch so gesagt.“
„Mir reicht das als Erklärung“, hat der Brenner gesagt. „Dass man vorher mit den Mücken geflogen ist, und nachher fliegt man vielleicht auch wieder mit den Mücken. Ich finde das eine gute Lösung. Schon allein aus Platzgründen. Darum verstehe ich nicht, dass man die kurze Zwischenlandung für Streitereien über das Leben verschwendet. Wenn man bedenkt, wie kurz die Zeit ist im Vergleich zur Mückenzeit.“
„Das haben Sie sich ja bequem zurechtgelegt. Und sonst interessiert Sie nichts am Leben?“
Aus: Wolf Haas, Der Brenner und der liebe Gott. Hamburg, 4. Aufl.2009, S.74
Brausen und Sausen
Der Sonntag ist ein Tag, dessen Verlauf und dessen Rituale mir aus den Kindertagen geblieben ist, als wäre ich damals für immer mit bestimmten Sehnsüchten und Erwartungen geimpft worden, ohne die ich mir einen Sonntag einfach nicht vorstellen konnte.
In den Kindertagen war dieser Tag nämlich der Tag des ganz anderen Lebens, des Lebens mit festlichem Charakter, das mit dem sonstigen Werktagsleben nur sehr wenig gemein hatte…
Alle paar Sonntage in den Dom gehen – das war in jenen Kinderjahren eines der Erlebnisse, die mich gewiss am meisten geprägt haben. Es begann damit, dass wir zu dritt am Rhein entlanggingen, die Eltern zu zweit und ich oft auf dem Roller, ihnen voraus. Schon von Weitem waren die mächtigen Domglocken zu hören, ihr schwerer Klang füllte das ganze Rheintal und zog einen wie magisch in die Nähe des hohen, schwarzen Gebirges aus Stein, das auf einer kleinen Anhöhe stand, zu der man über viele Stufen hinauf gelangte…
Bis der Gottesdienst begann, dauerte es meist noch einige Zeit, das machte aber nichts, denn in der Zeit bis zu seinem Beginn hatte ich viel damit zu tun, mir alles in meiner Nähe anzuschauen, die Heiligenfiguren an den hohen Pfeilern, den mächtigen Schrein im Chor oder die vielen brennenden Kerzen in der Nähe des Altars mit einem großen Bild der schönen Maria.
Schließlich aber war es soweit, ein feines, helles Glöckchen meldete sich, und dann standen alle rasch, mit einer einzigen, entschlossenen Bewegung, auf, und die Orgel begann etwas sehr Lautes zu schmettern, unglaublich laut brauste ihr Klang, als rauschten viele Engel zugleich mit ihren Flügeln und sausten wie im Sturm zwischen den Pfeilern hindurch, hinauf, bis unter das Dach und pfeilschnell an den bunten Fenstern aus Glas vorbei, die ich so gerne betrachtete…
Überhaupt war es schön, dass die Menschen während des Gottesdienstes so viel gemeinsam und meist auch noch dasselbe taten, endlich redeten sie nicht ununterbrochen, sondern nur dann, wenn sie darum gebeten wurden, und endlich bewegten sie sich nicht laufend von eine Stelle zur anderen, sondern hielten es eine Zeit singend und betend auf einem einzigen Platz aus…
Im Dom gehörte ich vielmehr dazu, ich gehörte zu all diesen laut singenden und betenden Menschen, niemand fragte mich aus, sprach mich an oder behauptete, das ich ein armes Kind sei, denn im Dom gab es überhaupt keine armen Kinder, sondern nur Gotteskinder, jedenfalls nannte der Erzbischof die Gläubigen so. Ein Gotteskind zu sein, war für mich also die eigentliche Erlösung und einer der schönsten Zustände überhaupt, deshalb bemühte ich mich im Dom auch sehr, alles richtig und so wie die anderen zu machen…
Im Dom lernte ich das eigentliche Sehen und Hören, ein Sehen von schönen Gebärden und kunstvollen Gestalten, ein Hören der reinsten Musik, einer Chormusik ohne Begleitung, oft einstimmig. Sie füllte den Kindskörper aus und machte ihn zu ihrem Widerpart, es war, als gösse der gewaltige Gott diese Musik in einen hinein, damit man allen Kummer und alle Sorgen zumindest für die Dauer des Gottesdienstes vergaß.
Aus: Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens, München 2009, S.53ff
ausgewählt und mit Titeln versehen von Johanna Wittman