Mobilität
Mobilität
Ich möchte nun einen Blick zurückwerfen in eine Zeit, in der die Menschen an die Orte gebannt und immobil waren. Es ist keine ferne Vergangenheit, sondern die Welt meiner eigenen Kindheit, deren Verhältnis zur Zeit, zur Geschwindigkeit und zur Mobilität uns heute beinahe archaisch anmutet. Das Symbol jener langsamen Welt war ein von Kühen gezogener Wagen. Von weitem hörte man ihn kommen, und langsam verschwand er. Die Leute brauchten viel Zeit für ihre Wege, für die Zubereitung der Speisen, für die Ausbesserung der Werkzeuge, für das Hacken der Kartoffeln, für das Schneiden des Grases und das Flicken ihrer Kleider. Nur wenig ging maschinell und ließ sich rasch erledigen. Die Menschen waren an ihre Orte gefesselt, da es kaum Autos gab und das Verkehrssystem wenig entwickelt war. Wenn man in die fünf Kilometer weit entfernte Kreisstadt ging, zog man die Sonntagskleider an, weil es in der Seltenheit zur „Reise“ wurde. Die Straßen hatten eine andere Bedeutung. Sie waren nicht Verkehrsadern, durch die man von einem Ort zum anderen huschte, ohne die Wege wahrzunehmen. Sie waren öffentliche Orte. Die Kinder spielten auf ihnen, und sie brauchten keine besonderen Spielplätze. Die Leute gingen auf ihnen, sahen einander und plauderten, schimpften oder tratschten miteinander. Man nahm sich wahr, im Guten wie im Bösen.
In der immobilen Welt waren die Leute nicht nur an die äußeren Orte gebunden, sondern auch von ihren inneren Orten kamen sie nur schwer los, von ihren Lebensauffassungen zum Beispiel. Wie man über das Leben dachte, über die Erziehung der Kinder, das Verhältnis von Mann und Frau, über Religion und Erziehung, das hat sich wenig verändert. Auch in der Lebensphilosophie war man immobil. Andere Entwürfe als die der eigenen Welt hat man ja kaum kennenlernen können. Das „Andere“ war darum eher das Unbekannt-Feindliche, vor dem man sich hüten musste. Das Sprichwort „Bleibe im Land und nähre dich redlich!“ war nicht nur eine Warnung vor dem Ortswechsel. Auch die geistigen Orte waren aufoktroyiert und sollten nicht gewechselt werden. Auch in den sozialen Orten, den Rollen, war man immobil. Undenkbar war damals, wie meine Enkelkinder und ich heute miteinander umgehen. Wir streiten miteinander, wir spotten übereinander, die Kinder fallen dem Großvater ins Wort, und er ihnen. So viel Freiheit und Spiel konnte man damals nicht denken. Die Vaterrolle war klar, ebenso die der Mutter und der Kinder, der Alten und der Jungen, der Angesehenen und der weniger Angesehenen. Man wusste, wer als erster zu grüßen hatte und wem als erstem das Wort zustand. Weil das Verhalten so geregelt war, waren dies Zeiten hoher Voraussagbarkeit. Man wusste, was Menschen normalerweise taten, wo sie waren und wie sie sich verhielten. Wenn man zum Beispiel bei Verwandten oder Bekannten Besuche machte, hat man sich nicht angemeldet, weil man schon wusste, wann oder wo jemand anzutreffen war.
Diese immobilen Welten hatten eine formale Sicherheit und Verlässlichkeit. Aber waren es gute Welten? Diese Frage wird eindeutig positiv nur beantworten, der noch nie in der Sommerhitze lange staubige Wege gehen musste, der noch nie in der Herbstnässe Runkelrüben ausgegraben hat, der nie in Zeiten gelebt hat, in denen die Kinder den Eltern nicht widersprechen durften, die Frau dem Mann, die Laien den Geistlichen und die Bauern dem Gutsherrn nicht. Die größere Mobilität und das andere Lebenstempo haben also dem Menschen viel vom äußeren und inneren Lebensdruck genommen. Mobilität hat das Leben humanisiert.
Und doch lagen in jener engen immobilen Zeit Voraussetzungen für eine Beheimatung des Menschen, die heute bedroht sind. Die Menschen hatten in jenen kargen Zeiten ein anderes Verhältnis zu den Dingen. Man hat die Dinge nicht schnell gekauft und sie nicht schnell verbraucht und weggeworfen. Vieles hat man selber hergestellt: die Rechen, die Besen, man hat Strümpfe gestrickt und Kleider genäht; man hat die Dinge oft selbst repariert, wenn sie verbraucht waren. Die Dinge gewannen Bedeutung, indem man anders mit ihnen umging. Die Objekte waren nicht nur fremde und benutzbare Gegenstände. Ich greife einen Gedanken von Ernst Bloch auf: In der Heimat ist man nicht nur mit Menschen identisch. Auch die Dinge kommen uns nahe, dass wir darin zuhause sind. Das Objekt rückt uns so nahe wie das Subjekt. Man war mit den Dingen vertraut. „Welt des Brotes“ hat Pasolini jene alte und langsame Welt genannt. …
Fulbert Steffensky: Schwarzbrot-Spiritualität, RADIUS, Stuttgart, Neuausgabe 2010, S. 133ff
Fulbert Steffensky wurde 1933 in Rehlingen / Saar geboren. Er war viele Jahre Professor für Religionspädagogik und ist Autor zahlreicher Bücher. Er lebt heute in der Schweiz.