Vom Sterben
Vom Sterben
„Großvater Alexander hatte sein ganz eigenes Hebräisch, er verbat sich jede Bemerkung dazu, und auf keinen Fall erlaubte er Berichtigungen…
Und einmal, ungefähr zwei Jahre bevor er starb, sprach er mit mir über den Tod: „Wenn, Gott behüte, ein junger Soldat fällt, ein junger Mann von neunzehn, zwanzig Jahren, nu, das ist ein furchtbares Unglück – aber keine Tragödie. In meinem Alter sterben – das ist eine Tragödie. Ein Mensch wie ich, fünfundneunzig Jahre alt, beinahe hundert, so viele Jahre steht er jeden Morgen um fünf Uhr auf, nimmt jeden Morgen eine kalte Dusche, seit fast hundert Jahren, sogar in Rußland eine kalte dusche morgens, sogar in Wilna, ißt seit hundert Jahren Morgen für Morgen eine Scheibe Brot mit Salzhering, trinkt ein Glas tschaj, Tee, und spaziert jeden Morgen eine halbe Stunde auf der Straße, im Sommer wie im Winter, nu, spazierengehen am Morgen – das ist für die mozion, das regt sehr gut die zirkulazje an! Und kehrt Tag für Tag gleich danach zurück und liest ein wenig Zeitung und trinkt dabei noch ein Glas tschaj, nu, kurz gesagt, das ist so: Dieser liebe bachurtschik, dieser junge Bursche, der Neunzehnjährige, wenn der, Gott behüte, getötet wird, dann hat der sich doch noch gar nicht alle möglichen regulim angewöhnen können. Wie auch? Aber in meinem Alter kann man schon sehr schwer damit aufhören, sehr, sehr schwer: Jeden Morgen die Straße zu spazieren – das ist bei mir schon altes rigul. Und kalte Dusche – auch ein rigul. Auch Leben – ist bei mir schon rigul, nu, was, nach hundert Jahren, wer kann da plötzlich auf einmal alle seine rigulim aufgeben? Nicht mehr jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen? Keine Dusche und kein Salzhering mit Brot? Keine Zeitung und kein Spaziergang und kein Glas tschaj? Nu, das ist eine Tragödie.“
Aus: Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, Frankfurt am Main 2004, S.185f