Wecker – Wir sind nicht zu trennen
Wir sind nicht zu trennen
Ich danke dem Leben,
den Flüssen, den Reben,
den Winden, den Bäumen
und ich dank meinen Träumen,
denn sie lassen mich fliegen,
die Starrheit besiegen,
und es ließ mich erkennen:
wir sind nicht zu trennen,
woher wir auch stammen –
wir sind eins und zusammen.
Kennt ihr nicht alle
diese oft nur kurzen Momente
der Stille,
des Aufgehobenseins im All,
in sich selbst ruhend,
fraglos und antwortfrei,
eingebettet in alles, was ist
und kreucht und fleucht
und tönt und scheint?
Diese Momente,
wo einem selbstverständlich
und ohne Bücher darüber gelesen zu haben
wortlos bewusst ist,
dass wir alle eins sind,
dass sich Menschen und Tiere und Pflanzen
nicht aufteilen lassen
in schwarz und weiß
und besser und schlechter
und einzigartiger und minderwertiger?
Wo einem plötzlich völlig verständlich ist,
dass wir nur eine gemeinsame Zukunft haben
oder gar keine?
Und diese Zukunft –
auch wenn es keine Zukunft gibt
und sich alles immer nur im Jetzt abspielt –
nur eine geistige sein kann?
Nur ein liebendes,
bedingungslos liebendes
gemeinsames Ahnen und Fühlen und Denken,
das uns die Last der Vergänglichkeit erhöht
in den Bereich des Wunderbaren?
Wir dürfen den Traum
von einer liebevollen,
zärtlichen und herrschaftsfreien Gesellschaft
nie mit Gewalt
in die Tat umzusetzen versuchen
Wir müssen ihn nur endlich
in unserem Denken zulassen und
andere inspirieren.
Ihn zuzulassen.
Dann wird er sich von selbst verwirklichen!!
Das ist keine einfache aufgabe.
Da müssen Denkblockaden gelöst werden,
da muss man sich selbst entstauben
und auf einfachere Modelle
wie Missgunst und Hass und Schuldzuweisung
verzichten lernen.
Da muss man sich
den herrschenden Gewalttätern
in den Weg stellen
und ihnen die deutliches NEIN
entgegenjubeln,
da muss man immer wieder den Mut haben,
sich als naiv beschimpfen zu lassen –
aber wäre es das nicht wert?
Wir müssen ja nicht mehr tun,
als zuzulassen,
was in der Tiefe unseres Selbst
uns allen gemeinsam als Sehnsucht
innewohnt.
Konstantin Wecker
aus: Auf der Suche nach dem Wunderbaren.
Poesie ist Widerstand. Gütersloh, 2018, S. 62-65